Es ist der 14. Januar 2019, in wenigen Stunden werde ich wieder ein Jahr älter. Wie üblich um diese Zeit, jedoch dieses Mal ein bisschen später als sonst, spüre ich eine sehr tiefe Trauer und Erinnerungen kommen hoch.
Für diesen Text gilt CN: Suizid, Trauma, allgemein kann der Text alles mögliche triggern.
Erinnerungsfetzen wechseln sich schnell ab, immer mal wieder tauchen Bilder aus der nahen oder auch sehr fernen Vergangenheit auf. In mir wechseln sich verschiedene Persönlichkeitsanteile ab und erzählen mir – und jetzt auch Euch – teils schöne, teils gar nicht schöne Erinnerungen.
Ich bin in der Grundschule und sollte unbedingt eine Geburtstagsfeier mit ein paar Mitschülern veranstalten. Ich weiß nicht, wen ich einladen soll, es gibt zwar ein paar wenige, nette Kinder, aber die meisten sind doof und gemein und ärgern mich ständig. Trotzdem muss ich mindestens sechs Kinder einladen, sonst wird halt gar nicht gefeiert, hat Mama gesagt. Ich lade also sechs Kinder ein.
Mama hat die Spiele schon überlegt, Topfschlagen wird gemacht und Ballons müssen kaputt gemacht werden. Dafür werden Luftballons aufgepustet, mit kleinen Geschenken versehen und an eine Schnur gehängt. Dann wird ein Bierdeckel präpariert – ein Gummiband wird an zwei Löchern festgemacht, sodass der Bierdeckel wie ein Hut getragen werden kann, und in die Mitte kommt eine Nadel. So ausgestattet, soll ein Kind unter die Luftballons treten und hochspringen, auf dass es einen Ballon trifft, zum Platzen bringt und so an das kleine Geschenk kommt.
Mama weiß, dass ich panische Angst vor lauten Geräuschen und noch viel schlimmere Angst vor spitzen Gegenständen habe, und ich weigere mich, mitzumachen, halte mir die Ohren zu und weine. Ich sehe, wie die anderen Kinder die kleinen Geschenke ergattern. Mama sagt, wenn ich auch eins will, muss ich genauso springen, wie die anderen. Die Kinder lachen mich aus, Mama zerrt mich unter die Ballons und zwingt mir diesen Hut auf. Dann hält sie mir die Ohren zu und sagt, ich solle springen. Das funktioniert nicht, Mamas Hände rutschen von meinen Ohren ab. Irgendwann habe ich dann doch das kleine Geschenk bekommen. Meine Ohren tun weh, ich bin verstört, verängstigt und einsam. Ich finde Geburtstage saublöd.
Ein paar Jahre später:
Ich bin vielleicht 13 oder 14, es ist eine Woche vor meinem Geburtstag und Mama sagt, ich muss jetzt endlich die Einladungen schreiben, sonst gibt es gar keine Geburtstagsfeier. Ich bin in einer Zwickmühle, ich will so gern Freunde haben und solche Sachen gehören halt dazu, sagt Mama. Zur Not soll ich halt irgendwelche Nachbarskinder einladen. Aber mit denen habe ich doch kaum Kontakt. Trotzdem lade ich sie ein und fühle mich mies. Weil es Kinder von Papas Arbeitskollegen sind, können sie auch nicht einfach absagen. Die Feier ist sehr blöd, ich fühle mich einsam und will das alles eigentlich gar nicht. Die anderen unterhalten sich prächtig miteinander, ich stehe außen vor.
Ich nehme mir vor, nicht älter als 30 zu werden. Geburtstage sind schrecklich, davon halte ich nicht noch mehr aus.
Dies sind nur zwei Erinnerungen, die aber für meine gesamte Kindheit und Jugend stehen.
Ich bin Mitte 20, inzwischen lebe ich in einer anderen Stadt und habe ein paar Mädels aus meiner Berufsschule eingeladen. Joints werden herumgereicht, Alkohol fließt in rauen Mengen. Ich bin gelöst. Wir gehen später noch in eine Kneipe um die Ecke.
Einige Zeit später wird von einer der eingeladenen Mitschülerinnen das Gerücht in die Welt gesetzt, ich sei lesbisch und sowieso sehr seltsam und sollte besser gemieden werden.
Nun ja. Einsamkeit ist mir bekannt, da fühle ich mich sicher. Selbst in meiner WG gibt es nur eine junge Frau, mit der ich mich richtig gut verstehe.
Die 30 steht kurz bevor:
Ich bin 29, morgen werde ich 30, und bisher habe ich mich jedes Jahr wieder an meinen Schwur als Teenager erinnert, nicht älter als 30 Jahre alt zu werden. Eigentlich nicht einmal 30. Ich weiß genau, wie ich es machen werde. Ich habe genug Tabletten, es gibt scharfe Messer, ich könnte also…
Aber ich tue es nicht.
Ich bin inzwischen verheiratet, die Ehe ist okay, ich habe ausreichend Vertrauen in meinen Mann, dass ich ihn bitten kann, auf mich aufzupassen in dieser Nacht. Er hat mich abgelenkt. Ich weiß nicht mehr, was wir damals gemacht haben, aber er hat mich abgelenkt, bis ich tatsächlich 30 Jahre alt war und der alte Vertrag mit mir selbst hinfällig war.
Heute sitze ich an meinem Schreibtisch und tippe diesen Beitrag. Es ging mir bisher jedes Jahr so, dass ich rund 14 Tage vor meinem Geburtstag depressiv wurde. Dieses Jahr ist wenigstens das anders. Es ist der Abend vor meinem Geburtstag und jetzt holen mich doch wieder die Erinnerungen ein.
Ich habe noch nie tatsächlich versucht mich umzubringen, aber die Gedanken sind oft da, immer noch. Und gerade jetzt wird die Stimme sehr laut, die mir vorwirft, vertragsbrüchig geworden zu sein. Immer noch. Und es tut weh, sehr weh.
Es gibt einen Song, von Herman van Veen interpretiert, er heißt „Der Mann, der so gerne nicht mehr leben wollte“. Er beschreibt sehr sehr gut, wie ich mich fühle. Der Song beschreibt einen Mann, dem ein Todeswunsch innewohnt, der immer wieder den Drang zu sterben in sich spürt und diesem Drang doch nicht nachgeben kann, weil er das weder seinen Eltern, noch seiner Frau, seinen Kindern oder zum Schluss sogar seinem Hund nicht antun kann. Als er dann als Greis im Sterben liegt, dachte er noch „wer sorgt jetzt für den Hund“.
Das gehört zu mir und es ist okay. Heute ist es okay. Ich kann es einordnen. Ich habe Instrumente an der Hand, wie die Realitätskontrolle, ich habe einen tollen Ehemann (ein anderer als der oben erwähnte^^), ich bin kürzlich umgezogen in eine tolle Gegend. Ich habe zwei wundervoll-knalltütige Katzen, ich habe Freunde, wirkliche Freunde. Ich habe meine Herzfamilie, meine Schwester und die weltbeste Nichte, die man sich vorstellen kann. Ich habe eine wundervolle Schwiegerfamilie.
Danke Euch. Einfach Danke. Für alles.
(Und jetzt gehe ich mich an meinen Mann ankuscheln und freue mich auf morgen, meinen Geburtstag. Weil.)